Entrevistas

Viardot, Pauline

Viardot-García: eine Kämpferin gegen Nationalismus und Kulturimperialismus

Juan Carlos Tellechea
jueves, 23 de diciembre de 2021
Pauline Viardot © Dominio Público Pauline Viardot © Dominio Público
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Sie war eine der berühmtesten und vielseitigsten Musikerinnen des 19. Jahrhunderts: die französische Sängerin, Pianisten und Komponisten Pauline Viardot-García, geboren vor 200 Jahre, am 18. Juli 1821 in Paris. Was anderen Komponisten ihrer Zeit vorenthalten blieb, wurde der vielseitigen Pauline Viardot-García schon zu Lebzeiten zuteil.  

Ihr kompositorisches Werk war durch die herausragende Präsenz der Sängerin und Gesangspädagogin teilweise durchaus bekannt und wurde in Frankreich, Russland. England und Deutschland gedruckt. Die Musikwissenschaftlerin Beatrix Borchard ist die führende Expertin zu Leben und Werk von Pauline Viardot-García, damals “eine der ganz wenigen Künstler und Künstlerinnen, die in fremde Kulturen eingetaucht sind“, sagt die emeritierte Professorin der Hamburger Hochschule für Musik und Theater. 

Beatrix Borchard. © 2021 by Hartmut Schoen.Beatrix Borchard. © 2021 by Hartmut Schoen.

Clara Schumann, Joseph Joachim und andere Musiker*innen des 19. Jahrhunderts glaubten an die Überlegenheit der deutschen Musik und missionierten dafür auf ihren Reisen. Zur gleichen Zeit hatte Pauline Viardot-García einen ganz anderen Ansatz, argumentiert Dr. Beatrix Borchard

Viardot -García ist eine der “zukunftsweisenden“ Musikerinnen ihrer Epoche. “Sie tauchte in verschiedene, auch soziale  Kulturen ein, eignete sie sich singend, sammelnd, bearbeitend und komponierend an und vermittelte sie inter-national“. Dr. Borchard gewährte freundlicherweise ein E-Mail-Interview mit Mundoclasico.com. Hier sind ihre exklusiven Aussagen: 

Juan Carlos Tellechea: Warum ist die Figur Pauline Viardot-García für Sie so wichtig, dass Sie sie so gründlich recherchiert haben? 

Pieza enlazada

Prof. Dr. Beatrix Borchard: Sie ist in meinen Augen keine Figur, sondern eine der zukunftsweisenden Musikerinnen des 19. Jahrhunderts, zukunftsweisend deswegen, weil sie keinen Kulturimperalismus betrieben hat. Für sie war keine Kultur einer anderen überlegen. Auch die vor allem in Deutschland tradierte Hierarchisierung zwischen Kunstmusik und sogenannter Volksmusik hatte für sie keine Bedeutung. Sie tauchte in verschiedene, auch soziale  Kulturen ein, eignete sie sich singend, sammelnd, bearbeitend und komponierend an und vermittelte sie inter-national. 

Eugéne Pluchart, retrato de Pauline Viardot-García (1853). © Dominio Público / Rulex.Eugéne Pluchart, retrato de Pauline Viardot-García (1853). © Dominio Público / Rulex.

Pauline Viardot-Garcias Vokalwerk ist deswegen äußerst gestalten- und farbenreich – ich spreche gerne von einem komponierten Kulturtransfer. Und hinter diesem Konzept steckte durchaus auch eine politische Haltung. Pauline Viardot-Garcia wie auch Franz Liszt oder die mit ihr befreundete Schriftstellerin George Sand waren geprägt von der französischen Romantik. Politische Revolution und ästhetische Revolution wurden als eine Einheit gesehen, aus der eine politische Verantwortung von Künstlern und Künstlerinnen erwuchs. 

Wie lange hat diese Recherche gedauert und wo sind Sie auf die größten Schwierigkeiten gestoßen? 

Sehr lange, aber unterbrochen durch meine Arbeit über den Geiger Joseph Joachim und seine Frau, die Sängerin Amalie Schneeweiss. 

Pieza enlazada

Von 2007 bis 2011 habe ich dann, gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft ein Forschungsprojekt zu Pauline Viardot-Garcia unter dem besonderen Aspekt des Kulturaustausches geleitet.  Einige der Ergebnisse sind im Rahmen meiner Viardot-Garcia Studienreihe im Olms Verlag Hildesheim* veröffentlicht worden, weitere werden folgen, so eine Studie zur Viardot-Rezeption in Russland. Meine Biographie über Pauline Viardot-Garcia ist 2017 im Böhlau-Verlag erschienen, der Briefwechsel mit Julius Rietz wurde 2021 im Olms-Verlag veröffentlicht.* 

Pauline Viardot-García, «Ausgewählte Lieder 1». © 2021 by Breitkopf & Härtel.Pauline Viardot-García, «Ausgewählte Lieder 1». © 2021 by Breitkopf & Härtel.

Wichtiges Forschungsergebnis ist vor allem auch das digitale Werkverzeichnis, das Christin Heitmann erarbeitet hat. Es wurde bewusst nur digital veröffentlich, weil unser Forschungsprozess nicht abgeschlossen ist/nicht sein kann. Die Hauptherausforderung: die Mehrsprachigkeit der Vokalkompositionen. Nur wenn die Noten vorlagen, konnte man erkennen, ob es sich um dieselbe Komposition nur in einer anderen Sprache handelte oder nicht. Denn oft wurden die Titel frei übersetzt und die Autoren nicht genannt. Das gilt vor allem für die französischsprachigen Veröffentlichungen. Auch große Teile der Korrespondenz vor allem aus der Zeit nach dem preußisch-französischen Krieg 1870/71 sind nach wie vor unveröffentlicht. 

Ein Teil des Originalmaterials von Pauline Viardot-García wird an der Harvard University aufbewahrt. Wie wichtig ist dieses Material und welche neuen Erkenntnisse hat es gebracht? 

Pauline Viardot-García. © Dominio Público / Wikipedia.Pauline Viardot-García. © Dominio Público / Wikipedia.

Natürlich ist es sehr wichtig vor allem bezogen auf den Notennachlass von Pauline Viardot. Wir wissen nicht genau, wie die Aufteilung ihres Nachlasses geregelt war, als sie 1910 starb. Pauline Viardot selbst hat anders als etwa Clara Schumann sich offenkundig nicht darum gekümmert, dass ihr Nachlass in ein öffentliches Archiv kommt. Sie hatte vier Kinder. Zwei der Töchter (oder deren Nachkommen) haben zahlreiche Briefe an die Handschriftenabteilung der Bibliothèque Nationale in Paris gegeben. In der Houghton Library liegen heute vor allem teilweise bis heute unveröffentlichte Kompositionen und Bearbeitungen von Pauline Viardot aus dem Nachlass der australischen Sopranistin Joan Sutherland und ihres Mannes, dem Dirigenten Richard Bonynge

Wie viel von Pauline Viardot-Garcías Werk ist bisher bekannt, und wie viel ist noch zu erforschen? 

Salón de Mme Viardot hacia 1853. © Dominio Público / Gallica.Salón de Mme Viardot hacia 1853. © Dominio Público / Gallica.

Das ist schwer einzuschätzen. Ich bin überzeugt davon, hoffe auch, dass immer wieder Noten aus ihrer Feder auftauchen werden. Allein von den vier Bühnenstücken, die sie in ihrer Baden-Badener Zeit komponiert hat, haben wir nur zu ‚Le dernier Sorcier‘ Partitur und Libretto. Vieles wurde antiquarisch ‚verschleudert‘. Man muß also neben systematischen Recherchen vor allem auch auf Zufälle hoffen. Zu tun ist noch sehr, sehr viel. Wir haben uns damals aus pragmatischen Gründen auf Deutschland und Russland konzentriert. Vor allem die Jahre, die sie ab 1872 wieder in Paris lebte, harren der wissenschaftlichen Aufarbeitung. Die müsste vor allem von französischer Seite geleistet werden. Ganz wichtig wäre es auch den sehr umfangreichen Briefwechsel zwischen Pauline Viardot-García und Camille Saint-Saëns zu edieren. Außerdem wissen wir, dass die us-amerikanische Mezzosopranisten Marilyn Horne bisher unbekannte Noten und Briefe von Pauline Viardot besitzt und hoffen, dass sie eines Tages ebenfalls an die Houghton Library gibt. 

Was können Sie uns erzählen über den Einfluss der spanischen Kultur und Musik auf das Werk von Pauline Viardot-García und die europäischen Komponisten, mit denen sie in Kontakt kam? 

Beatrix Borchard. © 2021 by Hartmut Schoen.Beatrix Borchard. © 2021 by Hartmut Schoen.

Das wäre ein eigenes Forschungsthema. Was wir wissen: sie hat zwar Vokalkompositionen ihres Vater Manuel Garcia als Zugaben in ihren Konzerten gesungen, oder auch spanische Nazionallieder, wie das dann damals genannt wurde, auf ihre Programme gesetzt: Was sich hinter diesem Titel verbirgt: wir wissen es nicht. Natürlich war bei ihr das ‚Spanische‘ nicht nur Frage eines besonders in Frankreich beliebten ‚orientalischen‘ Kolorits. Ihre Familie war spanisch, ihr Mann, Louis Viardot, Spanienexperte. Er hat als erster den Don Quichotte ins Französische übersetzt. Der Klang ihrer Stimme galt als ‚spanisch‘, ihr Aussehen auch etc.  Aber was alles bedeutet – das müsste noch erforscht werden. 

Denn unter die Begriffe spanish national songs oder chansons espagnoles fallen sowohl Volkslieder, als auch zeitgenössische Kompositionen im Volkston von Pauline Viardot selbst oder etwa von dem spanischen Komponisten Sebastián de Yradier (1809–1865), von dem übrigens auch das weltberühmte Lied La Paloma stammt, das er nach einer Reise nach Cuba schrieb. Er lebte seit 1850 lange Jahre in Paris, wo ihn Pauline Viardot in die Salons einführte. 1864 veröffentlichte er eine Sammlung mit 25 Chansons: Fleurs dʼEspagne. Pauline Viardot-Garcias  »eigene eigentümliche spanische Lieder« (Herald, 12.2.1859, S. 3) werden in biographischen Skizzen und Rezensionen oft erwähnt, stießen jedoch durchaus auch auf Befremden, so beispielsweise bei der Hamburger Presse oder bei Henry Chorley:

»Weiterhin soll die Aufmerksamkeit auf einige moderne Beispiele von Kompositionen im nationalen Stil gelenkt werden, in denen die altertümliche halb-barbarische spanische Wildheit von einem berühmten Kind des Landes verwendet wurde – von jemandem, der durch und durch in der ›hohen Komposition‹ (wie die Franzosen es nennen) versiert ist, Madame Viardot. Aber in ihren spanischen Melodien wird man die Intervalle und Phrasen eher wegen ihrer Fremdheit fesselnd, als wegen Schönheit bezaubernd finden. Sie sprechen von stimmlichen Bräuchen des Landes, mit denen diejenigen, die nicht von orientalischen Vorlieben erfüllt sind, nur insofern sympathisieren können, wie der Gaumen durch die Überzeugung der Gewohnheit und der Kraft des Aufenthaltes in dem Land dahin kommt, seltsame Gerichte zu akzeptieren und zu genießen.« (zit. nach Melanie Stier: Pauline Viardot-Garcia in Großbritannien und Irland. Formen kulturellen Handelns, Hildesheim 2012 (= Viardot-Garcia-Studien, hrsg. von Beatrix Borchard, Bd. 3),  S. 228)

Busto de Pauline Viardot-García en la avenida Baden-Badener. © 2021 by Bernd Kamleitner.Busto de Pauline Viardot-García en la avenida Baden-Badener. © 2021 by Bernd Kamleitner.

Die Vorbehalte gegenüber Andersklingendem machen deutlich, dass Pauline Viardot-Garcia auch in diesem Bereich eine Pionierin war. Indem sie Volkslieder bearbeitete und in ihr Repertoire aufnahm, transferierte sie Musik, die in einem anderen sozialen Kontext entstanden war und nicht als Vorführmusik gedacht war, in den Konzertsaal. Sie ergänzten nicht nur die eigene sängerische Farbpalette, sondern verwiesen als Inseln innerhalb der vielen Programme, die gänzlich der Kunstmusik gewidmet waren, auf die Wurzel aller Musik im Volk.

Notas

1. Beatrix Bochard, «Pauline Viardot-García. Fülle des Lebens», Köln: Böhlau Verlag, 2016, 439 Seiten, 44 s/w-Abb. und Notenbeisp., 44 Illustration(en), schwarz-weiß. ISBN: 978-3-412-50143-3

2. Beatrix Borchard und Miriam Alexandra Wigbers (hrsg.), «Pauline Viardot – Julius Rietz: Der Briefwechsel 1858-1874», (= Viardot-Garcia-Studien, hrsg. von Beatrix Borchard, Bd. 1), Hildesheim: Olms-Verlag, 2021, 663 Seiten, mit Abbildungen und Register. ISBN 978-3-487-15981-2

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